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Manuskriptblatt mit dem Gedicht "Der weiße Aar"

Der weiße Aar

Am grünen Haag, auf fettem Wiesengras,
Ein Stier behaglich widerkäut den Fraß,
Auf dürrem Ast ein Adler saß,
Ein kranker Aar, mit gebrochnen Schwingen.

Steig’ auf mein Vogel, in die blaue Luft,
Ich seh’ dir zu, aus meinem Kräuterduft, –
Weh! weh! umsonst die Sonne ruft
Den wunden Aar mit gebrochnen Schwingen.

O ! Vogel warst so stolz und freventlich,
Und keine Fessel wolltest ewiglich, –
Weh! weh! zu Viele über mich!
Und Aare all, brachen mir die Schwingen.

So flattre in dein Nest, vom Aste fort,
Dein Aechzen schier mir meine Kräuter dorrt,
Weh! weh! kein Nest hab’ ich hinfort!
Verscheuchter Aar, mit gebrochnen Schwingen.

O Vogel! wärst du eine Henne doch!
Dein Nestchen hättest du im Ofenloch –
Weh! weh! viel lieber ein Adler noch!
Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!

(HKA XIII, 1, S. 34)

Bild ganz oben: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Der weiße Aar". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 1,2.

Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Der weiße Aar" und weiteren Liedern. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 1,2.

Diese Handschrift ist nicht das Arbeitsmanuskript, sondern eine Reinschrift. Droste notiert auf zwei Doppelblättern mehrere Liedtexte. Sie trennt die verschiedenen Lieder und deren Strophen mit Quer- und Längsstrichen voneinander ab. "Der weiße Aar" steht auf der linken Seite in der Mitte.

Korrekturen in der Reinschrift Verschreiber und Irrtümer

Zweimal irrt Droste sich beim Abschreiben ihres Gedichts und streicht eine begonnene Zeile wieder durch: Rechts oben beginnt sie zunächst versehentlich mit der vierten statt mit der dritten Strophe und schreibt: "So flattre in dein".

Und die zweite Zeile der vierten Strophe beginnt zunächst: "Dein Ächzen schier die Kraute", bevor sie ihren Irrtum bemerkt, die begonnene Zeile durchstreicht und darunterschreibt: "Dein Aechzen schier mir meine Kräuter dorrt". In der gedruckten Version heißt es dann aber doch: "Dein Aechzen schier die Kräuter mir verdorrt."
 

Bild links: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Der weiße Aar" (Ausschnitt). Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 1,2.

Der weiße Aar – Vertonung

Annette von Droste-Hülshoff war nicht nur Dichterin, sondern auch Komponistin. Sie schrieb zahlreiche Lieder für Singstimme und Klavier, vertonte aber nur vier ihrer eigenen Gedichte. "Der weiße Aar" ist eines davon, es umfasst zehn Takte. Das Lied beginnt auf der Mitte des ersten Blattes. Zwischen den Notenlinien ist der Titel notiert.

Bilder unten: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Der weiße Aar", Lied für Singstimme und Klavier. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 17_014 und MA V 17_16.

Der weiße Aar

"Der weiße Aar" - Aufführung

Sopran: Heike Hallaschka
Klavier: Clemens Rave

www.haus-stapel-konzerte.de

https://www.youtube.com/watch?v=ceApQ6dG8GI

Spannungsgeladene Dissonanzen

Dass es in "Der weiße Aar" nicht friedlich zugeht, ist in Drostes Vertonung deutlich zu hören. Miriam Springer erklärt, woran das liegt:

„Wird im Text noch von Behaglichkeit gesprochen, klingt es in der Begleitung längst nach der Gewalt, die von Gleichgültigkeit gestützt wird (T[akt] 1-4), wenn sich im Forte marschrhythmisch Akkord an Akkord reiht. […] Das Lied ist spannungsgeladen durch die Dissonanzen […]; auch verminderte Septimakkorde sind darunter, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer frappierten. So hält die Musik die Gewalt ständig gegenwärtig, beschreibt die Machtverhältnisse, in denen der eine sich sicher weiß in seinem Haag und der andere, der Geschundene […], heimatlos ist.“ (Springer 1994, S. 67)

Bild rechts: Anfang von "Der weiße Aar". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 17_014.

Einsame Höhenflüge

In welche Höhen der weiße Aar steigen würde, wenn seine Schwingen nicht gebrochen wären, und wie einsam es dort oben ist, machen die letzten Takte von Drostes Vertonung hörbar. Wenn die Singstimme auf dem Wort "Aar" zum zweigestrichenen F aufsteigt, schweigt die Klavierbegleitung.

Bild links: Die letzten vier Takte von "Der weiße Aar". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA V 17_16.

Adler und Stier – was sind denn das für Tiere?

Wappentiere und Revolutionäre: Politische Tiere

Der weiße Adler macht dieses Lied als politischen Text erkennbar, denn ein weißer Adler ist das polnische Wappentier. Drostes Lied entstand wahrscheinlich 1838 und verweist auf die Polen-Begeisterung im deutschen Vormärz, die eine reiche Polen-Lyrik hervorbrachte.

Polen war damals zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt und als souveräner Staat verschwunden. Ein Aufstand gegen die Fremdherrschaft wurde 1830/31 niedergeschlagen, die Aufständischen ins Exil getrieben. Viele gingen in die Schweiz, doch im Jahr 1836 wurde ihnen das Asyl aufgekündigt. Im vormärzlichen Deutschland wurde die polnische Befreiungsbewegung zur Projektionsfläche für das eigene Streben nach Freiheit und Einheit (vgl. Blasberg u. Grywatsch 2018, S. 336).

Auch der Stier in Drostes Gedicht führt ein Doppelleben als Wappentier, denn ein Stier ziert das Wappen des Schweizer Kantons Uri (vgl. Springer 1994, S. 67). Der weiße Adler in Drostes Gedicht kann als Zeichen für die geschlagenen aufständischen Polen gelesen werden, die von restaurativen Staaten und deren biedermeierlichen Bürger:innen – bezeichnet durch den Stier – verjagt und verspottet werden. Die restaurativen Kräfte kommen dabei deutlich schlechter weg als die Revolutionäre. Das dürfte in Drostes konservativem Umfeld nicht allen gefallen haben.

Doch dies ist nicht die einzige Weise, das Gedicht zu verstehen.

Bild links: Wappen des Königreichs Polen. Wikimedia Commons.

Das Wappen des Königreichs Polen: Weißer Adler auf rotem Grund.

Der Adler als Dichterin: Poetologische Tiere

Der Stier fordert den Adler auf: "Steig' auf mein Vogel, in die blaue Luft"; doch "die Sonne ruft" den Adler vergebens – er kann nicht fliegen, weil seine Schwingen gebrochen sind.

Der Vogel, der sich zur Sonne erhebt, ist seit alters her ein Zeichen für den Dichter. Der Stier vergleicht allerdings den Adler, der von seinesgleichen, von "Adler[n] all", geschunden und flugunfähig gemacht wurde, in auffallender Weise mit einer Henne (und nicht mit einem männlichen Hahn), wenn er spottet: "wärst du eine Henne doch / Dein Nestchen hättest du im Ofenloch".

Ist der weiße Aar also, wie Heinrich Detering meint, "ein Weibchen, oder vielmehr: ein für seinen Übermut bestraftes Weib?" (Detering 2020, S. 22) Verweist er demnach auf die Situation einer Dichterin, die von ihren Familien- und Standesangehörigen in ihrer literarischen Entfaltung immer wieder behindert und zurechtgestutzt wird?

Zahlreiche Bezüge zu anderen Texten Drostes stützen diese Lesart. Droste denkt in ihren Gedichten intensiv über die Bedingungen und Möglichkeiten ihres Schreibens als Frau und Adlige nach.

Bild rechts: Johann Joseph Sprick: Annette von Droste-Hülshoff, 1838. Wikimedia Commons.

Droste im blauen Kleid

Die Körper der Tiere: Komische Tiere

Der Stier liegt in Drostes Gedicht nicht einfach malerisch auf einer grünen Wiese, sondern er "wiederkäut den Fraß". So drastisch konkret wurde dieser Verdauungsvorgang bis dahin selten für poesiewürdig befunden.

Gleich in der ersten Zeile werden die Leser:innen dadurch darauf aufmerksam gemacht, dass die Tiere, von denen in diesem Gedicht die Rede ist, nicht nur Zeichen für etwas anderes sind, seien es Revolutionäre, Biedermänner oder Dichterinnen. Sie verweisen auch auf reale Adler und Stiere in ihrer Körperlichkeit.

Durch den Kontrast der körperlichen Tiere und der erhabenen Konnotationen, die mit ihnen verknüpft sind – Freiheitskampf, nationale Einheit, dichterisches Streben – entsteht eine Komik, die auch die mit den Tieren verknüpften Bedeutungszusammenhänge in eine ironische Distanz rückt (vgl. Blasberg u. Grywatsch 2018).

Bild links: Der Pygargue oder Adler mit weissem Kopfe, aus: Friedrich Justin Bertuch u. Carl Bertuch: Bilderbuch für Kinder. Bd 1. 2. Aufl. Weimar 1802. Teil 1, Tafel Vögel V. Digitalisat: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bertuch1801bd1/0114

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Weißkopfadler in Bertuchs Bilderbuch für Kinder

Literatur

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hg. von Winfried Woesler. Bd. I–XIV (28 Teilbände) (= HKA). Tübingen 1978–2000.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 1: Gedichte zu Lebzeiten. Text. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA I, 1). Tübingen 1985.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 2: Gedichte zu Lebzeiten. Dokumentation. Erster Teil. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA I, 2). Tübingen 1997.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. XIII, 1: Musikalien. Text. Bearbeitet von Armin Kansteiner (= HKA XIII, 1). Tübingen 1986.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. XIII, 2: Musikalien. Dokumentation. Bearbeitet von Armin Kansteiner (= HKA XIII, 2). Tübingen 1988.

 

Blasberg, Cornelia u. Jochen Grywatsch: „Der kranke Aar“. In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von dens. Berlin u. Boston 2018, S. 335–338.

Detering, Heinrich: Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Göttingen 2020.

Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980.

Springer, Mirjam: „Improvisationen“. In: Annette von Droste-Hülshoff. Hg. von Herbert Kraft. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 62–68.