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Ulrich Horstmann

Ulrich Horstmann macht es einem leicht. Auf seiner Homepage stellt er nicht nur das vollständige Manuskript Rondo Rondone oder Von der Spannweite der Mauersegler als PDF zur Verfügung, sondern fügt auch noch weitere Stellen in seinen Gedichten und Aphorismen an, die Mauerseglern und Schwalben[1] gewidmet sind. Und das sind nicht wenige. Er selbst sagt: "Wer als Literat auf sich hält, schafft sich beizeiten ein Totemtier an." (www.untier.de/apus-apus), wobei er auf Jack London und Philipp Larkin verweist, zwei seiner Hausgötter, über die der Autor, Philosoph, Übersetzer und Herausgeber wiederholt publiziert hat.

 

Bild links: Foto-Portrait von Ulrich Horstmann. https://untier.de/galerie

Von Walter Gödden

Woher stammt seine Affinität zu den beschwingten Tieren? Rührt sie vielleicht von der Leichtigkeit her, mit der sie die Welt durchstreifen, vermeintlich wahllos und doch einem inneren Plan folgend? Mit der sie sich über die Dinge erheben, leicht und fast schwerelos? Oder auch der Hartnäckigkeit und Zähigkeit dieser 'Langstreckler', die fast ihr ganzes Leben in einsamen Höhen verbringen?

Befragen wir die erwähnten Textstellen selbst, wohl wissend, dass wir damit nur einen winzigen Teil des allumfassenden Horstmann'schen Gedankenkosmos ins Blickfeld nehmen. Verlassen wir uns also auf die Auswahl des Autors und schauen auf jene Stellen, in denen sich Vogelkunde und Literatur gegenseitig bereichern. Ja, wir nehmen uns sogar die Freiheit, die Fundstellen aus ihrem größeren Zusammenhang herauszulösen, weil jede Kontextualisierung uns gleich wieder nötigen würde, die Komplexität der Horstmann'schen Gedankenwelt mit einfangen zu müssen (was hier, im beschränkten Rahmen, schlicht nicht möglich wäre). Nur den Mauerseglern/Schwalben soll die Aufmerksamkeit gehören, nur ihnen allein.

Eine erste Reminiszenz begegnet in der Erzählung Steintals Vandalenpark (1991). Eine nüchterne, trübe Szenerie: Bahnübergang, Bauernhaus, Schweinemast, Fäkaliengeruch. Wanderer und Schwalbenschar bewegen sich für Augenblicke synchron. Bewunderung steigt im Erzähler auf, ob der lässigen Wendemanöver der Tiere, ihrer übermütigen Flugkurven. Die Befürchtung, die Tiere könnten sich verletzen, ist ganz unbegründet, weiß der Ich-Erzähler, aber sie steigt dennoch in ihm auf.

Gleich vier Funde im Band Hirnschlag. Aphorismen – Abtestate – Berserkasmen (1984). Zunächst ein Aufatmen: Winter ade, die Frühlingssonne kündigt sich an. Und mit ihr halten die Schwalben Einzug. Als Zeichen eines "großen Einverständnisses" (www.untier.de/apus-apus), wie es heißt, "Sommertheodizee auf Schwalbenflügeln" (ebd.). Ein Hauch von Zuversicht macht sich breit und die Einsicht: Die Schwalben gehören nicht nur zu einer anderen Welt, sie sind eine andere Welt. Ihr Flügelschlag ist ein Befreiungsschlag. So erheben sie sich nicht nur über den Humus der Erde, sondern zugleich auch über die gesamte Fauna: "Das Gedankenspiel fordert reifliche Überlegung. Aber gesetzt den Fall, man könnte eine einzige Tiergattung vom Untergang ausnehmen, welche könnte sich ernsthaft um dieses Privileg bewerben – mit Ausnahme vielleicht der Schwalben." (Ebd.)

Die Erhabenheit der speziellen Vogelart greift auch der nächste Aphorismus auf, wiederum mit Endzeit- und Apokalypse-Gedanken konnotiert:

Trüge man mir auf, eine neue Mythologie zu entwerfen, ich würde die Testgruppe glauben machen, nach dem Tode lebten die Seelen der Elendesten und Erniedrigsten unter ihnen – aber nur sie – noch eine Handvoll Jahre als Segler fort. Damit aber Verheißung und Trost nicht überhandnähme auf Erden, wiese ich auf die am Himmel auf- und niederfahrenden Vögel und spräche also: 'Die die Elendesten waren, sind für ein Schwalbenleben die Glücklichsten geworden. Und doch – hört, hört ihre Schreie.' (Ebd.)

Viel knapper, streiflichtartiger die nächsten Textstellen. In Infernodrom. Programm-Mittschnitte aus dreizehn Jahren (1994) lassen die Mauersegler erneut ihr Können aufblitzen, ja wirklich blitzen, gedankenschnell wie der zufällige Blick des Betrachters, der sie in der Abendsonne entdeckt, die ihr Licht auf die Unterseite ihrer Flügel projiziert. Um so etwas zu registrieren, solch raren, transzendenten Momenten beizuwohnen, muss man schon sehr genau hinschauen, wach sein, ließe sich folgern. Dabei machen die Tiere gar nicht viel Aufhebens um ihr Geschick: "Die Schlichtheit der Könner: Ein Mauersegler dreht keinen Looping, dafür fliegt er im Gewitter." (Ebd.) Was wohl auch heißen kann: Er weicht der Gefahr nicht aus, weiß er doch, dass sie ihm nichts anhaben kann. Im Urvertrauen auf ein unbewusstes, instinktives Gefühl der Geborgenheit. Was auch die nächste Fundstelle nahelegt: "Die Mauersegler und ihre freischwebende Existenz. Bestimmt merken sie kaum, wie sich der Globus zweimal im Jahr unter ihnen vorbeidreht." (Ebd.) Und dann ein typischer Horstmann-Aphorismus, über den man lange nachdenken kann, weil er so stimmig, aber doch mehrdeutig daherkommt: "Mauersegler sind der einzige Luxus, den sich die Fliegen erlauben." (Ebd.)

In den Gedichten von Altstadt mit Skins (1995) hat sich im Titel "Erscheinung" das lyrische Ich wie ein Clochard unter einer Brücke eingerichtet, in unmittelbarer Nachbarschaft von "zwei Dutzend vertrödelten Schwalben" (ebd.). Es fragt sich, warum es sich nicht längst aus dem Staub gemacht hat, und noch immer hier, an diesem Ort, seinen Gedanken nachhängt statt das Weite zu suchen. Beharren und (verhinderter) Aufbruch sind in nur zwei Versen komprimiert: "Heruntergekommen / fliegt er jetzt unter Brücken" (ebd.), heißt es. Das Ich hat sich mit den Schwalben solidarisiert, eine Gossen-Reminiszenz à la Villon.

Vorsicht, Zunahme der Vogelmetaphern! Gleich sechs Treffer finden sich im nächsten Aphorismusband Einfallstor. Neue Aphorismen (1998). Vision 1: Ein Mauersegler verspeist eine Fliege. Doch die Fliege ist ein Mensch, die Eintagsfliege Mensch, ein Homunculus, ein Nichts angesichts einer flüchtigen Welt und des vorbeiflirrenden Universums, lediglich Zeuge eines kosmischen Wimpernschlags. Vision 2: Ein Verzweifelter, eingesperrt in einer erbärmlichen Behausung, ist beseelt von dem Gedanken, durch ein Hinaus in die Welt wieder einen "Schwall der Frische" (ebd.) einzuatmen. Doch die Rückkehr ins Leben ist keine wirkliche Rückkehr, sondern mit einem verzweifelten Todessturz verbunden. Dem Todeskampf folgt der Moment des Ausatmens, der Entrückung.

Er kippt ab Panik reißt ihn auf schlägt über ihm zusammen er schlägt zurück in die Verzweiflung Leere das Sterbenmüssen kriegt er unter die Flügel drischt drischt drischt darauf ein, bis ihn das Bodenlose trägt, erhebt, bis die Regenreste in der Rinne, Zeugen einer schicksalsergebenen Fallsucht, ungläubig und voll hilfloser Gier zu dem plötzlich Unbeschwerten emporsperren. (Ebd.)

Eine andere Lesart kommt unserem Thema noch näher: Nämlich die, dass mit dem Verzweifelten auch die Panik eines Mauerseglers kurz vor Beginn des Ausfliegens gemeint ist – angesichts eines Lebens, das sich fortan fast ausschließlich in schwindelnden Höhen bewegen wird.

Horstmann hat auch diese Textstelle seinem Mauersegler-Potpourri zugezählt, ebenso wie den folgenden Aphorismus, der eingangs den lateinischen Namen der Spezies Mauersegler benennt: "Apus apus ist seit zwei Tagen überfällig, Hessen von allen guten Geistern verlassen. Ich stehe kurz davor, die Fliege zu machen." (Ebd.) Im nächsten Text ist der Mauersegler nicht einmal angesprochen, sondern nur angedeutet: Das lyrische Ich kommt vom Sport, spürt bereits den Muskelkater zwischen Schulterblättern, während sein Blick nach oben wandert in eine blühende Zierkirsche:  "Da driftet der erste quer durch die rosarote Wolke, Heimkehrer wie ich, aber die Schwingen, auch nach unzähligen Flugstunden noch, blütenblattweich." (Ebd.)

Es folgt eine Hommage an den "Beschwingtesten aller Gleiter" (ebd.):

Auch der Gedankenflug kennt viele Stile: das preziöse Auf-der-Stelle-Flirren der Kolibris, das verhuschte Nicht-aus-den-Büschen-kommen von Zaunkönigen und Heckenbraunellen, die große Flatter der Tauben, das auf- und niederwogende Himmelsgeruder der Krähen, die pfeifende Majestät endlich abgehobener Schwäne. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, aber möchte ich über dem Eisblau des Himmels schaulaufen können wie die Beschwingtesten aller Gleiter, die Mauersegler. (Ebd.)

Bei so viel Bewunderung ist es kein Wunder, dass das lyrische Ich sehnsüchtig Tage und Monate Ausschau hält, bis die gefiederten Freunde wieder im Landeanflug sind: "Mitten im Dezember wendet sich das Blatt. Gestern waren sie noch nicht achtzehn Wochen fort, heute lassen sie keine viereinhalb Monate mehr auf sich warten. Vor dem Zeigefinger, im niedergekommenen Himmel aus Pulverschnee beflügeln sich meine Totemtiere." (Ebd.)

Auch der Umstand, dass der Mauersegler 2003 zum "Vogel des Jahres" gekürt wurde, findet Eingang in einen Text (Picknick am Schlagfluß. Gedichte, 2005). Ja, der wehrlose Vogel wurde, wie profan, zum Objekt der Werbeindustrie:
 

Bild oben: Typoskript von Ulrich Horstmanns Gedicht "Vogel des Jahres" im Vorlass des Autors. Der Text weicht durch die Kursivierung von der unter www.untier.de, der Webseite Horstmanns, abgedruckten Fassung ab. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum). Bestand 1022.

Und dann fast wie ein Paukenschlag für alle Mauersegler-Fans: 2020 veröffentlichte Horstmann Rondo Rondone. Von der Spannweite der Mauersegler, eine Textsammlung, bestehend aus Lyrik, Aphorismen und Prosa. Pure Bewunderung auch hier für die Überflieger, die ein stetes Objekt der Beobachtungskunde abgeben. Und sich auch instrumentalisieren lassen, wenn es darum geht, die eigene Flugangst zu beschreiben, an Bord eines Segelflugzeugs: "zwanzig Metern Spannweite / kein Segler in Sicht / sie mauern." (Horstmann 2021, S. 3)

Bild oben: Ein Schwarm fliegender Mauersegler (apus apus). Wikimedia Commons.

An dieser Stelle müssen nun wir die Segel streichen. Denn der für das Thema vorgesehene Platz ist längst aufgebraucht, ja weit überschritten. Vier Zeugnisse aber müssen noch unkommentiert folgen. Auch, weil sie die andere Seite des berüchtigten Apokalyptikers Ulrich Horstmann zeigen, ja seltene Sehnsuchts- und Versöhnungsworte anstimmen:

Von meinem Balkon sehe ich der Life-Show zu: perfekt durchchoreographiert die Bewegung der Blätter, Wolken und Mauersegler; gekonnt getaktet, fein abgestimmt die Drosselstimme und das elektronische Trillern des Telefons, das pfeifende Vorbeiwischen der schwarzen Körper und das Vom-Himmel-hoch-Gegrummel dieses versilberten Kriechtiers. Ein Gesamtkunstwerk, ein großer Abend, eine unvergeßliche Vorstellung. "Beiwohnen dürfen" schreibe ich in den Schlußsatz meiner Kritik. (Ebd., S. 6)

Abschiedsgala im Abendlicht. Das Uhrwerk erscheint am Himmel, bevor die Stunde schlägt, zweimal im Jahr. Will sagen, sie fliegen gegenläufige Kreise, so daß die ineinandergreifenden Zahnräder jeden an jedem vorbeitransportieren. Als wollten sie sich einprägen, wer angekommen war und wer mit auf die Reise ging. Und die Jungen werden herumgereicht. Natürlich. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist doch Nachwuchs hochgekommen, zeigt sich munter und bei Kräften. Auch seine kleinen Uhrwerke sind aufgezogen, die Federn gespannt für das Aushebeln zweier Jahreszeiten. – Lässig läßt sich ein Tänzer nach dem anderen aus der Kurve tragen. Mit Sonnenaufgang, ist man sich einig, springt die Anzeige um: Departed on schedule. (Ebd., S. 7)

Alle Jahre wieder und doch die alte Nervosität vor der Bescherung. Der Mauersegler-Advent geht zu Ende, und es will Weihnachten werden. Die Zierkirschenblüte auf der Stresemannstraße um die Ecke setzt den Augenzeugen eine rosarote Brille auf, die nicht trügt. Der Himmel ist tatsächlich himmelblau, und ein paar Wolken flanieren so müßiggängerisch darüber hin wie ein Dandy mit seiner Schildkröte. Der Kondensstreifen driftet mit und macht niemandem einen Strich durch die Rechnung. Kurz, es ist Ankunftswetter, und über der Lahn tanzen die Mücken ihren Göttern entgegen, die sie durchfüttern mit Aztekenstolz, bis das Wunder geschieht und ungelegte Eier flügge werden. (Ebd., S. 15)

[Es] vergeht kein Wintersemester, in dem ich nicht am 12.12. in all meinen Lehrveranstaltungen die ‚Seglerwende‘ feiere, d.h. den Zeitpunkt, an dem das neunmonatige Warten auf die Rückkehr meiner Totemtiere zur Hälfte verstrichen ist und der Countdown beginnen kann. Außerdem mache ich deutlich, daß der 24.12. gegen den 12.12. keine Chance hat. Denn das wahre Weihnachten, so die entsprechende Routine im Sommersemester, ist der 24.4., der Tag, an dem die ersten Späher am Himmel erscheinen und nach acht-, neuntausend Kilometern Luftlinie, die im übrigen kein Mauersegler beachtet, das Einschweben aus Südafrika oder dem Kongo-Becken folgt. Am Beginn des Sommersemesters feiern wir also jedes Jahr Mauersegler-Advent und zählen die Tage. Damit bin ich auch nach der Pensionierung felsenfest in Hunderten von Studentenköpfen verankert. Es läuft ab wie in der Zeile der Schillerschen Ballade "Sieh da! Sieh da, Timotheus, / die Kraniche des Ibykus!"; das verläßliche alljährliche Wiederauftauchen dieser Vögel ruft auch mich zurück: "Kuck mal, da sind sie wieder, Horstmanns Mauersegler!" (Ebd., S. 39)


[1] Der Autor verwendet beide Vogelarten, den Mauersegler und die Schwalben, synonym. Streng genommen handelt es sich um unterschiedliche, nicht näher verwandte Arten. Mit einer Flügelspannweite von über 40 Zentimetern sind Mauersegler erheblich größer als die heimischen Schwalben. Sie haben lange, sichelförmige Flügel und einen kurzen, gegabelten Schwanz. Bis auf die grauweiße Kehle ist das gesamte Gefieder bräunlich bis schwarz. Der Schnabel und die Füße sind schwärzlich. Mauersegler verbringen fast ihr ganzes Leben im Flug. Sie trinken und schlafen sogar in der Luft (vgl. LBV).

Literatur

Ulrich Horstmann: Rondo Rondone oder Von der Spannweite der Mauersegler (Stand Mai 2021). https://untier.de/wp-content/uploads/Rondo.pdf (Abruf am 06.08.2021).

LBV: "Schwalben im Vergleich". Auf: Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. https://www.lbv.de/ratgeber/tipps-voegel-bestimmen/leicht-verwechselbar/schwalben/ (Abruf am 06.08.2021).

https://untier.de/apus-apus/