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Instinkt

(1841/42)

"Über eines Pudels Treue" grübelt das Ich in diesem abgründigen Gedicht nach. Annette von Droste-Hülshoff hatte viel Kontakt zu Hunden. Auf den adligen Schlössern, auf denen sie ihre Jugend verbrachte und auch später besuchsweise lebte, wurden Hunde für die Jagd gehalten. Sie begleiteten die Herrschaft auch auf Spaziergänge, wie diese Zeichnung aus dem Stammbuch von Drostes Schwager Joseph von Laßberg zeigt. 

Ein Hündchen, das Droste sich zur Gesellschaft nahm, als sie ihre Schwester Jenny und Laßberg auf der Meersburg besuchte, musste sie zu ihrem Leidwesen bald wieder abgeben. Der Schlossherr fürchtete, es könnte Flöhe ins Haus schleppen.

Bild links: Ansicht von Schloss Eppishausen aus dem Stammbuch Joseph von Laßbergs. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum). Bestand 1053/113.

Instinkt

Bin ich allein, verhallt des Tages Rauschen
Im frischen Wald, im braunen Haideland,
Um mein Gesicht die Gräser nickend bauschen,
Ein Vogel flattert an des Nestes Rand,
Und mir zu Füßen liegt mein treuer Hund,
Gleich Feuerwürmern seine Augen glimmen,
Dann kommen mir Gedanken, ob gesund,
Ob krank, das mag ich selber nicht bestimmen.

Ergründen möcht ich, ob das Blut, das grüne,
Kein Lebenspuls durch jene Kräuter trägt,
Ob DIONÆA* um die kühne Biene
Bewußtlos ihre rauhen Netze schlägt,
Was in dem weißen Sterne** zuckt und greift,
Wenn er, die Fäden streckend, leise schauert,
Und ob, vom Duft der Menschenhand gestreift,
Gefühllos ganz die Sensitive trauert?

Und wieder muß ich auf den Vogel sehen,
Der dort so zürnend seine Federn sträubt,
Mit kriegerischem Schrei mich aus den Nähen
Der nackten Brut, nach allen Kräften treibt.
Was ist Instinkt? – tiefsten Gefühles Heerd;
Instinkt trieb auch die Mutter zu dem Kinde,
Als jene Fürstin, von der Glut verzehrt,
Als Heilge ward posaunt in alle Winde.

Und du, mein zottger Tremm, der schlafestrunken
Noch ob der Herrin wacht, und durch das Grün
Läßt blinzelnd streifen seiner Blicke Funken,
Sag an, was deine klugen Augen glühn?
Ich bin es nicht, die deine Schale füllt,
Nicht gab der Nahrung Trieb dich mir zu eigen,
Und mit der Sklavenpeitsche kann mein Bild
Noch minder dir im dumpfen Hirne steigen.

Wer kann mir sagen, ob des Hundes Seele
Hinaufwärts, oder ob nach unten steigt?
Und müde, müde drück' ich in die Schmehle
Mein Haupt, wo siedend der Gedanke steigt.
Was ist es, das ein hungermattes Thier,
Mit dem gestohlnen Brode für das bleiche
Blutrünst'ge Antlitz, in das Waldrevier
Läßt flüchten und verschmachten bei der Leiche?

Das sind Gedanken, die uns könnten tödten,
Den Geist betäuben, rauben jedes Glück,
Mit tausendfachem Mord die Händ, röthen,
Und leise schaudernd wend' ich meinen Blick.
O schlimme Zeit, die solche Gäste rief
In meines Sinnens harmlos lichte Bläue!
O schlechte Welt, die mich so lang' und tief
Ließ grübeln über eines Pudels Treue!

* DIONÆA MUSCIPULA, auch "die Fliegenfalle" genannt.
** SPARMANNIA


Dionaea] Venusfliegenfalle (Dionea muscipula).
in dem weißen Sterne] Die Zimmerlinde (Sparmannia africana) trägt weiße Blüten.
Sensitive] Die Mimosa pudica klappt, ähnlich wie die Zimmerlinde, die Fieder ihrer Blätter bei Berührung nach oben.

Nähen] Nähe
jene Fürstin] wohl Fürstin Pauline von Schwarzenberg (1774–1810), die auf einer Feier bei einem Brand ihr Kind aus den Flammen retten wollte und dabei selbst umkam.
Tremm] wohl Name des Hundes.
Schmehle] auch Schmiele: Grasart mit schlanken Halmen.

Dieser Text basiert auf dem Erstdruck des Gedichts in: Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof. Stuttgart u. Tübingen: J. G. Cotta'scher Verlag 1844.

Quelle: Online-Edition der Werke Annette von Droste-Hülshoffs auf dem Droste-Portal. Vgl. auch HKA I, 1: 124 f.

Arbeitsmanuskript

Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 58_2.

Auf diesem dicht und klein beschriebenen Arbeitsmanuskript, das nur wenig mehr als Din A 4-Format hat, notierte Droste in drei Spalten zunächst Entwürfe zu ihrer Ballade "Die Vendetta", dann – in der unteren Hälfte der rechten Spalte – ihr Gedicht "Instinkt". Droste war stark kurzsichtig, konnte deshalb aber kleine Details in der Nähe gut sehen. Sie ging sehr sparsam mit Papier um und nutzte jede freie Fläche aus. Die Entzifferung ihrer Entwurfsmanuskripte ist deshalb nicht leicht.

Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Entwurfshandschrift zu "Instinkt". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 58_2.

"Instinkt" entstand während Drostes Aufenthalt auf der Meersburg vom 30. September 1841 bis zum 29. Juli 1842 (vgl. HKA I, 2, S. 1025). Das Gedicht verhandelt nichts Geringeres als die Frage nach der anthropologischen Differenz: Gibt es einen kategorialen Unterschied zwischen Tieren und Menschen?

Das Gedicht stellt "die in der zeitgenössischen Naturwissenschaft lebhaft diskutierte Frage, ob und wie auch andere Lebewesen als der Mensch zu fühlen und zu denken imstande seien" (Detering 2020, S. 42) und fragt umgekehrt, inwiefern das menschliche Handeln durch Instinkte geleitet sei.

Bei der Beobachtung eines Vogels, der seine Brut schützt, entwickelt das Ich die Frage: „Was ist Instinkt?“ (V. 21). Es beantwortet sie sofort: „tiefsten Gefühles Heerd“ (ebd.). Doch wenn das Ich dann über die Treue von Hunden zu ihren Menschen nachdenkt, die sogar stärker ist als ihr Lebenserhaltungstrieb (vgl. V. 37–40), wird deutlich, dass diese Antwort nicht ausreicht (vgl. HKA I, 2, S. 1028). Wenn außerdem Menschen wie Tiere instinktgeleitet sind: Worin besteht dann die radikale Differenz, die es den Menschen erlaubt, sich über die Tiere – und Pflanzen – zu erheben?

Am Ende des Gedichts gerät „die ontologische Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren“ (Detering 2020, S. 40) ins Schwanken. Charles Darwin identifiziert einige Jahre später in On the Origin of Species (1959) Instinkt als das Prinzip, das Mensch und Tier verbindet (Springer 2021, S. 160).

Bild oben: Der große Budel, aus: Friedrich Justin Bertuch u. Carl Bertuch: Bilderbuch für Kinder. Bd 3. Weimar 1798. No. 70. Digitalisat: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bertuch1798bd3/0204

Literatur

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hg. von Winfried Woesler. Bd. I–XIV (28 Teilbände) (= HKA). Tübingen 1978–2000.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 1: Gedichte zu Lebzeiten. Text. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA I, 1). Tübingen 1985.

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 2: Gedichte zu Lebzeiten. Dokumentation. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA I, 2). Tübingen 1997.

 

Blasberg, Cornelia u. Jochen Grywatsch: „Instinkt“. In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von dens. Berlin u. Boston 2018, S. 300–204.

Detering, Heinrich: Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Göttingen 2020. 

Springer, Mirjam: „Das sind Gedanken, die und könnten tödten. Drostes Gedicht Instinkt“. In: Literarische Krisenreflexion im Zeichen der Ökologie. Mensch-Umwelt-Beziehungen in Annette von Droste-Hülshoffs Dichtung. Hg. von Barbara Thums (= Droste-Jahrbuch 13). Hannover 2021, S. 159–174.