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Doppelseite aus Meisters Arbeitsbuch mit Notizen zu "Als wie..."

Als wie ...

Als wie ... als wenn
ich säße unter der Eule Gefieder
und weinte da ... weinte
neben der Eulenfeder!

Eule, ist sie nicht Nachttier,
räuberisch fliegend
im Farblosen?
Nicht Blau, nicht Rot,
die heimsuchen meine Augen,
sagen ihr was.

Also ... warum?
Fließt denn
Finsternis, Tusche aus mir
statt Tagblut?

Ich verstehe nicht,
was ich versteh.

Dich aber gedenkend,
wein ich, wo immer,
stehend im Quell deiner Augen,
das Da-sein
aus dem Glauben des Glaubens
ans Da,
den unausweichlichen,
hell-tödlichen
Tatort.

(Meister 2011. Bd 3, S. 69)

 

Bild ganz oben: Doppelseite aus Ernst Meisters Arbeitsbuch mit Entwürfen zu "Als wie...". Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.8 34.525 (521)_001]; © Reinhard Meister.

Entwürfe zu "Als wie..." im Arbeitsbuch

Auf diesen und weiteren Seiten seines Notizbuchs arbeitet Meister an seinem Gedicht, er streicht, stellt um und schreibt neu.

Unter dem Gedicht vermerkt Meister das Datum "20.6.69". Das Gedicht erscheint im Band Es kam die Nachricht (1970).

Bild unten und Bild ganz unten: Handschriftliche Entwürfe zu "Als wie..." in Ernst Meisters Arbeitsbuch 34. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.8-34.525 (521)_002 und _001]; © Reinhard Meister

Die Eule und das rote Arbeitsbuch

Wenn die Eule in Meisters Gedicht "im Farblosen" fliegt, so spielt das Gedicht auf die ältere (und heute überholte) Wissenschaftsmeinung an, Eulen könnten aufgrund der speziellen Physiologie ihrer Augen keine Farben sehen. Das sprechende Ich vergleicht seine eigene optische Wahrnehmung mit derjenigen der nachtaktiven Eule. Dass die Farben Rot und Blau die Augen des Ich "heimsuchen", als seien sie unwillkommene, ja feindliche Kräfte, ist auffallend. Die Eule, deren Federn auch die Assoziation zur Schreibfeder zulassen, erscheint hier als Wesen, das dem menschlichen Ich einiges voraus hat.

Ernst Meister selbst ist zur Entstehungszeit des Gedichts fast blind. Im Jahr 1966 verliert er einen großen Teil seiner Sehkraft und kann von da an, wenn überhaupt, nur noch mit einer starken Lupe lesen. Seine Handschrift wird dementsprechend deutlich größer. Er entwirft seine Gedichte in einem großen roten Notizbuch, das mehr als Din A4-Format hat.

Bild rechts: Rotes Arbeitsbuch. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.8 34 (Arbeitsbuch rot)_002]; © Reinhard Meister

Fotografie des Notizbuches von Ernst Meister

Als wie ...

In "Als wie ..." wird eine Eule zum Pendant des Dichters.

Nicht nur begibt sich das menschliche Ich in seinem Gedankenspiel in die unmittelbare körperliche Nähe der Eule. Das farblose Dunkel, in dem die Eule als "Nachttier" fliegt, korrespondiert der schwarzen Tusche, die – wieder im Gedankenspiel – das Blut des Ich ersetzt. Mit der Tusche ist ein Utensil des Schreibens angesprochen, und die Eulenfeder ruft die Assoziation zur Schreibfeder auf. Dieses Gedicht denkt, so wird deutlich, über das Schreiben und die Möglichkeiten poetischen Sprechens nach. Die "Finsternis", die die Eule und das Ich des Gedichts verbindet, verweist auf das Thema, das Meisters spätes Schaffen bestimmt: den Tod und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit (vgl. Herrmann 2008). Die Eule, die im Volksglauben als Todesbotin gilt, ermöglicht in diesem Gedicht die Entwicklung einer Sprache, um das Unfassbare, den Tod, in Worte zu fassen.

Während sich das Gedicht "Die Zerstreuung eines Fisches" noch stark an konventionellen Strophenformen und Metren orientiert, erarbeitet Meister sich im Lauf der Nachkriegszeit eine vollkommen neue lyrische Sprache, die sich von überlieferten Formen löst. Sie ist stark verdichtet und ruft eine Bildlichkeit auf, die um die Bedingungen der menschlichen Existenz kreist. Clemens Heselhaus beschreibt diese Verdichtung:

Ein einziges Wort kann eine Zeile füllen, eine einzige Zeile kann eine Strophe ersetzen: minima lyrica. Die Verkürzung und Verknappung wird bis zu einem eben noch sprechenden Umfang geführt. […] Die äußerste Konzentration verbindet sich mit der innersten Reichweite. (Heselhaus 1962, S. 437)

Meister erfährt für seine verknappte Sprache scharfe Kritik, insbesondere den Vorwurf der Unverständlichkeit. Er antwortet, indem er sein dialogisches Verständnis von Gedicht und Lesenden vorbringt. Über den Dichter schreibt er: "Sein Gedicht verrät, was er weiß. Es fragt dich danach, was du weißt." (Ernst Meister: [Notiz], in: Meister 1989, S. 50.

In der letzten Strophe des Gedichts, das mit der grammatikalisch ungewöhnlichen Konstruktion "Dich aber gedenkend" beginnt, erscheint ein Du, das als menschliches zu denken ist. Ernst Meister begibt sich in dem Gedichtband Es kam die Nachricht (1970), in dem "Als wie …" erschienen ist, auf die "Suche nach einem lyrischen Du" (Allemann 1979, S. 131). Ein biographischer Kontext ist seine Liebe zu der Schriftstellerin Gabriele Wohmann.

Noch mehr zu Ernst Meister

Im Rahmen von europa:westfalen – literaturfestival [lila we:] 2021 entstanden zwei Filme über Ernst Meister im Süden. Auf seinen Reisen in verschiedene Mittelmeerländer fand Meister Inspiration und Kraft zum Schreiben.

Ernst Meister und der Süden - Teil 1: Ibiza und die Provence

Von: literaturland westfalen

 

Ernst Meister und der Süden - Teil 2: Im Südland

Von: literaturland westfalen

Literatur

Meister, Ernst: Es kam die Nachricht. Gedichte. Nachwort von Reinhard Kiefer. Aachen 1990.

Meister, Ernst: Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. 6 Bde. Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans u. Andreas Lohr. Göttingen 2011.

Meister, Ernst: Prosa. 1931 bis 1979. Hg. von Andreas Lohr-Jasperneite. Darmstadt 1989.

Allemann, Beda: "Nachwort". In: Ernst Meister: Ausgewählte Gedichte 1932–1979. Darmstadt: Luchterhand 1979.

Herrmann, Karin u. Stephanie Jordans: Ernst Meister. Eine Chronik. Göttingen 2011.

Herrmann, Karin: Poetologie des Erinnerns. Ernst Meisters lyrisches Spätwerk. Göttingen 2008.

Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. 2., durchges. Aufl. Düsseldorf 1962.

Hoffmann-Krayer, Eduard: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 2 [1929/30 Reprint 2010]. Berlin u. Boston 2011.